Der Vardar ist der größte Fluss Nordmazedoniens. Er entspringt in den Bergen der Šar Planina auf etwa 700 Metern Höhe, durchzieht das Land in einem weiten Bogen von West nach Südost, bevor er bei Idomeni die Grenze zu Griechenland überquert und schließlich als Axios nahe Thessaloniki in die Ägäis mündet. Schon in dem populären Lied Jugoslavijo, der inoffiziellen jugoslawischen Nationalhymne, findet er Erwähnung – „Vom Fluss Vardar bis zum Berg Triglav...“ heißt es darin – ein Hinweis darauf, welch bedeutende Lebensader er seit jeher darstellt. Schon lange trug ich die Idee mit mir herum, mit den Packrafts eine Tour auf dem Balkan zu wagen und schließlich entdeckte ich während der Recherche den Fluss Vardar. Der Vardar schien ein guter Kompromiss zu sein – landschaftlich reizvoll, weitgehend unverbaut, mit kleinen Wildwasserstellen, aber auch für Wanderpackrafts noch gut zu meistern.
An einem sonnigen Morgen Ende August steigen wir in Salzburg in den Reisebus nach Skopje. Anfangs sind wir kaum mehr als eine Handvoll Reisende, und obwohl im Verlauf der Fahrt durch Österreich und Ungarn noch einige Menschen und auch das eine oder andere Paket zusteigen, bleibt der Bus angenehm leer. Ein junger Mazedonier, freundlich und voller Stolz auf sein Land, setzt sich bei jeder Pause zu uns: Noch immer sind Touristen hier etwas Besonderes, Nordmazedonien zählt neben Moldau und Lettland zu den am seltensten bereisten Ländern Europas. Und tatsächlich sind wir die einzigen Nicht-Osteuropäer im Bus – ein Bild, das ich aus Bulgarien, der Ukraine und Serbien bereits kenne – als Deutscher fliegt man halt doch recht gerne. Dabei hat so eine Busfahrt durchaus ihren eigenen Reiz: Man nähert sich dem Land langsam, Stunde um Stunde, die Landschaft verändert sich Schritt für Schritt und nicht so abrupt wie beim Fliegen. Im Licht der aufgehenden Sonne überqueren wir die Grenze nach Nordmazedonien, zeigen ein letztes Mal die Pässe vor und kommen sogar eine Stunde zu früh in Skopje an.
Vom Busbahnhof bringt uns ein beinahe leerer, vollständig von Graffiti bedeckter Zug nach Oreshani. Pünktlich rollt er an, doch kaum beginnen wir darüber zu witzeln, dass „in allen anderen Ländern funktioniert, was in Deutschland schief geht“, steht er auch schon mitten auf freier Strecke eine Viertelstunde still. Schließlich steigen wir auf einem improvisierten Acker aus und laufen durch das kleine Dorf zur Brücke über den Vardar. Hier erreichen wir endlich den eigentlichen Ausgangspunkt unserer Reise. Im Schatten der Brücke – inzwischen ist die Hitze des Tages über uns hereingebrochen – blasen wir die Packrafts auf, verstauen das Gepäck und zwängen uns in die Neoprenanzüge. Die Sorge der vergangenen Tage, der Fluss könne nach dem regenlosen Sommer kaum Wasser führen, erweist sich als unbegründet: Der Vardar hat einen nahezu idealen Pegel, das Bett ist voll, die Strömung kräftig, und so gleiten wir beschwingt in unser kleines viertägiges Abenteuer hinein.
Doch die Ernüchterung folgt schnell. Der Vardar ist wunderschön – die Landschaft weit, warm und einladend –, und umso schmerzlicher trifft uns der Müll, der streckenweise an seinem Ufer liegt. Man verzweifelt fast, wenn man sieht, wie achtlos manche Menschen mit ihrem Land umgehen. Je weiter wir uns jedoch von Skopje entfernen, desto besser wird es; das Flusswasser trinken wir dennoch lieber nicht. Am Ende des ersten Tages erreichen wir den Beginn der Taor-Schlucht, in der der Fluss die Ausläufer des bis zu 2.500 Meter hohen Jakupica-Gebirges durchfließt. Die Dörfer weichen zurück, die Hügel rücken näher zusammen und der Fluss zieht kurvenreich durch das bewaldete Tal. Kleine Schwallstrecken machen das Paddeln lebendig, an einem Sandstrand bauen wir schließlich das Zelt auf – ein Ort, so friedlich und still, dass fast ein wenig Südsee-Feeling aufkommt.
Auch am nächsten Morgen liegt der Himmel wolkenlos über uns, die Sonne glitzert auf dem Wasser, und erneut wechseln sich ruhige Passagen mit leichten Wildwasserstellen ab. Erstaunlich ist, wie stark der Pegel schwankt: Während unsere Feuerstelle noch beim Aufstehen deutlich über der Wasserlinie lag, schwappt bereits eine Stunde später das Wasser darüber – offenbar eine Regulierungsmaßnahme eines weiter flussaufwärts gelegenen Stausees. Am Nachmittag stoßen wir auf eine alte Hängebrücke, deren morsches Holz in Deutschland wohl keinen TÜV-Mitarbeiter eine Nacht schlafen ließe. Zögerlich betreten wir sie dennoch, balancieren vorsichtig hinüber und erreichen eine kleine orthodoxe Kapelle, verlassen und verschlossen, doch mit zwei klaren Quellen, die uns Wasser schenken. Wieder am Fluss, halten wir uns, wie empfohlen, strikt links, um den Ausstieg vor dem Tunnelkatarakt nicht zu verpassen. Zwischen Felsen können wir zwar problemlos anlanden, doch der Pfad hinauf ist überwuchert, dornig und nur mit Mühe zu begehen – dafür finden wir einen schönen Zeltplatz etwas weiter oberhalb. Das Tunnelkatarakt umtragen wir. Wir stehen lange am Hang, diskutieren, wägen ab. Von oben wirkt die Passage fahrbar, doch die großen Felsen und die wuchtigen Kehrwasser sind nicht zu unterschätzen und keiner von uns ist erpicht darauf, die Schwimmweste einem unfreiwilligen Praxistest zu unterziehen.
Gegen Mittag lassen wir die Taor-Schlucht hinter uns und erreichen Veles, eine Stadt mit fast 50.000 Einwohnern und mehreren Brücken, die den Fluss überspannen. Ich paddle voraus, Doreen folgt, doch kaum sind wir unter der ersten Brücke hindurch, ruft sie: „Irgendetwas ist kaputt gegangen!“ Sofort steuert sie eine Kiesbank an und wir blicken ungläubig auf einen zwanzig Zentimeter langen, messerscharfen Riss im Unterboden ihres Packrafts – sauber durchgeschnitten, sogar der Sitz ist betroffen. Wir haben keine Ahnung, was es gewesen sein könnte, sind jedoch vor allem erleichtert, dass ihr nichts passiert ist. Ausgerechnet an diesem Nachmittag hat sich der sonst so eintönig blaue Himmel zugezogen und das erste Donnergrollen rollen durch das Tal, während wir den Riss notdürftig mit Panzertape flicken. Die Konstruktion hält – erstaunlicherweise –, und wir verlassen Veles zwischen grauen Wohnblocks und verbauten Böschungen. Südlich der Stadt wird die Landschaft zunehmend mediterran: Die Wälder weichen gelbem Gras, helle Kalkfelsen setzen Akzente, und trotz des Gewitters, das uns noch erwischt, bleibt dieser Abschnitt einer der schönsten der gesamten Tour. Am Abend steigen wir auf eine Hügelkuppe, 200 Meter über dem Fluss, und blicken weit hinab in das weiter und sanfter werdende Tal des Vardar – ein Regenbogen krönt den Himmel.
Griechische Landschildkröten streifen am Morgen um unser Zelt. Es ist Sonntag und am Fluss sitzen dutzende Angler, die uns meist freundlich grüßen, während wir vorbeipaddeln. Am letzten Tag wollten wir eigentlich bis Gradsko fahren, doch mit dem provisorisch reparierten Boot entscheiden wir uns für einen früheren Ausstieg in Nogaevtsi – immerhin hat dies den Vorteil, dass wir genug Zeit haben, um in Ruhe unsere Sachen zu trocknen. Der Bahnhof von Nogaevtsi erweist sich als nichts weiter als ein Trafohäuschen an einer eingleisigen Strecke. Mit uns wartet ein albanischer Hilfsarbeiter, dessen ganzes Hab und Gut in eine Plastiktüte passt. Der Zug kommt nicht. Die Bauern, die ihn hergebracht haben, fahren irgendwann wieder zurück. Es wird Abend, dann Nacht. Die Leuchten blinken auf, ein Zug taucht auf – aus der falschen Richtung. Dann Stille. Wir überlegen schon, ob wir uns zum Schlafen einfach auf den Bahnsteig legen sollen, als mit drei Stunden Verspätung endlich ein Personenzug aus der richtigen Richtung auftaucht. Wir springen hinein, fragen den erstbesten Passagier: „Skopje?“ Ein Nicken, „Da, Skopje.“ Der Schaffner erklärt uns später – über einen improvisierten Übersetzer –, dass niemand wisse, wann der Zug ankommen werde – irgendein Problem mit dem Motor – aber sie seien optimistisch, dass sie es irgendwie schaffen. Und das reicht. Im Wagen wird gelacht, erzählt, niemand ist genervt wegen der Verspätung. Auch das unterscheidet Nordmazedonien von Deutschland – dafür gibt es allerdings auch keine Anzeige und es ist schon blöd, wenn man nicht weiß, ob der Zug nun vielleicht in zehn Minuten kommt – oder an diesem Tag gar nicht mehr.
Mitten in der Nacht kommen wir dann tatsächlich in Skopje an. Unser Hotel liegt im Alten Basar, dem muslimischen Viertel der Stadt, dessen enge Gassen, Teestuben und kleinen Läden einen ganz eigenen Zauber besitzen. Wir besuchen die Festung Kale, blicken weit über die Stadt, schauen uns die zahlreichen Skulpturen und Statuen an, die vor allem in der Innenstadt in einem wahren Übermaß herumstehen. Entstanden sind sie aus dem ehrgeizigen Projekt „Skopje 2014“ des ehemaligen Ministerpräsidenten Nikola Gruevski, das Skopje in die Barockhauptstadt Europas verwandeln sollte. Nach ausufernden Kosten und uneinsichtigen Vergabeverfahren wurde das Projekt allerdings im Jahr 2017 gestoppt. Gruevski floh nach Ungarn – und Skopje wurde in erster Linie als Kitschhauptstadt verspottet. Wobei – schön anzuschauen ist die Stadt durchaus. Am letzten Tag stoßen wir dann noch zufällig auf einen riesigen Basar unweit unseres Hotels. Bei zahllosen Händlern gibt es hier nichts, was es nicht gibt. Doreen findet ein Pilzmesser und ich ein passendes Uhrwerk für meine Wanduhr. Dies sind noch zwei der eher harmloseren Dinge; als wir dann jedoch Springmesser, Pistolen, Taser und sogar eine Handgranate sehen, sind wir doch etwas irritiert. Aber in Nordmazedonien gehen die Uhren halt doch etwas anders als bei uns Zuhause in Deutschland.
© 2025 Sebastian Steude
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